Ich möchte dem Sonnenuntergang näherkommen. Ihn einfangen und in einem Foto verewigen.
Es riecht nach feuchtem Laub. Die rote Farbe der Hagebutten weicht allmählich einem Braun, ihre Zeit ist um. Ein Männlein steht im Walde, ganz still und dumm, denke ich, bevor ich in den Nichtwald komme. Es hat vor lauter Popo ein Mäntlein um. So habe ich es früher immer gesungen. Früher, als der Wald noch dunkel war. Hochgewachsene Tannen haben den Weg gesäumt.
Jetzt sind sie verschwunden. Es riecht nach Freiheit. Wie riecht Freiheit? Wie ein feuchter, modriger Wald, der in seiner Dunkelheit trotzdem die Luft erfrischt? Nein, denke ich, Freiheit riecht nach Meer und Weite, nach Algen und ermordeten Bäumen.
Zu meiner Linken sehe ich die Baumstümpfe, die den Blick freigeben. Bis zum Meer. Zu meiner Rechten liegen die Baumskeletthaufen und ich stelle mir vor, dass es Leichen ohne Füße sind. Die Füße stehen samt Schuhen noch auf der anderen Seite des Weges. Mich fröstelt es, der Herbstwind zieht durch meine dünne Jacke, in meinem Ohr rauscht konstant das Brausen der Wellen. Ich vergrabe meine eisigen Finger in den Taschen.
Es hat heute viel geregnet, jetzt spiegeln Pfützen den blauen Himmel. Seine Wolken schwimmen wie weiße Schafe im Wasser.
Mein ganzes Leben lang schon suche ich nach Verbindung.
Aber wo soll ich suchen, wenn ich nicht weiß, welche Verbindung ich brauche?
Heute bin ich nah dran gewesen, denke ich, während ich durch den Nichtwald gehe. Aber ich will nicht aufhören, von dir zu träumen.
Ich sehe auf das Meer, noch immer bin ich nicht nah genug am Sonnenuntergang dran. Die Holzfäller haben ein paar Laubbäume stehen lassen. Sie wiegen sich im Wind hin und her. Wie dünne, gebrechliche Streichhölzer sind sie den Launen des Herbstes ausgeliefert, ihre starken Brüder und Schwestern hat man mit schwerem Gerät vernichtet. Ein Baum ist schon umgeknickt und liegt quer über dem Weg. Ich gehe um ihn herum, dabei springe ich von Baumstumpf zu Baumstumpf.
Ich muss noch die weite, sumpfige Grasfläche überqueren. Sie leuchtet orange-rot unter dem blauen Himmel, manchmal lugt ein Wacholderbusch zwischen den Halmen hervor. Hier ist es so still. Obwohl das Meer nah ist, verschlucken die umliegenden Felsen sein Rauschen.
Ich male mir aus, dass eine Herde Büffel hier grast. Und du stehst oben auf dem Felsen. Von dort siehst du bereits den Sonnenuntergang, aber auch du willst ihm näher kommen. Also gehst du auf ihn zu. Du wartest nicht auf mich.
Am Fuße des Felsens liegt das Skelett eines Schafes. Ich bleibe stehen und stoße mit dem Fuß sanft dagegen. Der Brustkorb steht nach oben ab, einige Rippen sind heruntergefallen. Der Kiefer ist geöffnet, ein stummer Schrei hängt in der Luft. Der Wind trägt den Schrei hinfort und zurück.
Und dann sehe ich es: Im Stacheldraht eines umgekippten Zauns hat sich ein Schaf verfangen. Es zappelt, macht alles nur schlimmer. Langsam nähere ich mich, das Schaf versucht, wegzurennen. Dabei verheddert es sich noch mehr, sein Kopf mit den gebogenen Hörnern verwickelt sich im Draht, es hält still, röchelt. Ich streichele über den Kopf, seine Augen sind aufgerissen, sodass ich das Weiß sehe, sie beobachten jede meiner Bewegungen. Es riecht nach Wollfett, herb und süß. Vorsichtig weite ich den Draht, führe den Kopf zurück, er ist frei. Ich betrachte den Stacheldraht, der sich mehrmals um den Körper des Schafes gewickelt hat. Die Stacheln stecken tief im weichen, dicken Fell. Ich ziehe am Draht, dabei reiße ich einzelne Wollbüschel heraus. Das Schaf hält still. Es rührt sich nicht mehr. Sein Atem geht schnell und flach, es hat Angst. Ich streichele sein weiches Fell.
»Ich hebe es hoch, dann kannst du den Draht rausziehen.«
Ich drehe mich um. Deine Haare hängen dir halb vor den Augen.
Ich nicke. Du hebst das Schaf hoch. Es hält immer noch still, wird ganz weich in deinen Armen. Ich ziehe den Draht aus dem Fell, er ist zwei Mal um den Bauch des Tieres gewickelt. Es dauert bestimmt fünf Minuten. Du ächzt vor Anstrengung, das Tier wiegt mindestens sechzig Kilo. Der Stacheldraht reißt eine Wunde in meine Hand. Ich wische sie an meiner Hose ab, es brennt.
Dann ist das Schaf frei. Du trägst es fort vom Stacheldraht, setzt es behutsam ab. Das Schaf schüttelt sich kurz, dann macht es einen Satz und rennt davon.
Du streichst dir die Haare aus der Stirn, ein vorsichtiges Lächeln in deinen Augen, ein warmes Brausen. Mir fällt auf, dass ich dich nie lächeln sehe. Da ist immer Traurigkeit in allem, was du tust. Auch jetzt. Da ist etwas, das dich hoffen lässt, und es macht dich lebendig, obgleich es eine vergebliche Sehnsucht ist. Und du weißt es. Es zieht dich mit sich fort.
Gemeinsam setzen wir den Weg zum Sonnenuntergang fort.
»Warum bist du umgekehrt?«, frage ich dich.
»Er hat es mir geraten.«
»Wer?«
»Der Alte.«
Ich blicke dich von der Seite her an. Du lächelst nicht mehr, siehst kurz zu mir herunter, dann erklärst du es mir.
»Ich habe einen Zauberer getroffen, der ein weißes Kaninchen sucht.«
»Kann er es nicht aus seinem Hut hervorzaubern?«
»Er hat keinen.«
Schweigend gehen wir weiter. Das Licht wird weicher, ein Wolkenschleier umspielt die untergehende Sonne. Ich beginne zu ahnen, dass du genau die richtige Menge an Seltsamkeit in dir trägst. Dazu dein ferner Blick, der immer in eine andere Welt zu blicken scheint, deine Kieferpartie, die zart und stark zugleich ist.
»Er hat Heimweh.«
»Der Zauberer?«, frage ich.
Du nickst, dann sagst du: »Ohne Hut kein Kaninchen, ohne Kaninchen kein Weg nach Hause. ›Suchst du immer noch dieses verdammte Karnickel?‹, haben sie ihn gefragt. Bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand.«
»Was macht ein Zauberer im Ruhestand?«
Du zuckst mit den Schultern.
»Warum fragst du immer nur?«
Ich schweige. Du hast recht. Ich habe nur Fragen, keine Antworten.
Während wir über die Felsen klettern, versuche ich mir vorzustellen, was ein Zauberer im Ruhestand macht. Ich sehe ihn Pfeife rauchend und hutlos am Feuer sitzen. Der Abdruck des verlorenen Hutes zeichnet sich auf seinem Haar ab. Hinter ihm steht seine kleine, windschiefe Holzhütte. Keine Magie soll sie gerade rücken, er genießt den Charme des Unvollkommenen. Magie ist Perfektion, denkt er vielleicht. Immer wieder macht er lange Spaziergänge, um seinen Hut zu suchen. Er klettert in Schluchten hinab, hinauf auf Berge, hält dem Wind stand, der dort unerbittlich bläst. Er sehnt sich nach seinem wahren Zuhause, zu dem er keinen Zugang hat. Ihm geht es gut in seiner kleinen Hütte. Aber die Sehnsucht bleibt. Er fragt sich, ob es nur die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren ist.
Wir gehen den schmalen Pfad entlang, der uns zum nicht abgeholzten Teil des Waldes bringt. Die Tannen nehmen uns Licht, wir müssen die Dunkelheit durchschreiten, um zum Sonnenuntergang zu kommen. Es riecht nach Moos und Waldboden. Hier ist es windstill, aber das Rauschen des Meeres ist lauter denn je. Behutsam steigen wir über die dicken Wurzeln. Wie schwarze Schlangen wollen sie uns zum Fallen bringen. Aber wir fallen nicht.
»Entschuldigung«, sagst du und nimmst meine Hand.
Ich zucke kurz zusammen, als ich deine Berührung spüre, meine Wunde brennt, dann lege ich meine kalten Finger um deine warme Hand.
»Ich glaube, er sucht den Hut«, sage ich.
Du drückst meine Hand und sagst: »Beethovens gesamte Pathétique in seinem einen Blick.«
Ich sehe schon das Ende des Waldes: den Felsen, von dem aus man den Sonnenuntergang am besten sehen kann. Wir gehen jetzt hintereinander, weil der Pfad so schmal geworden ist.
Wir stehen auf dem Felsvorsprung und überblicken das Meer. Aus den Felsspalten ragen Heidekräuter, machen die kantigen Felsen weicher.
Die Sonne ist schon untergegangen. Sie ist hinter dem Horizont verschwunden. Die warmen Farben ihres Fortgangs hängen noch am Himmel. Sie sind kein Foto mehr wert.
Der Wind bläst uns jetzt heftig ins Gesicht, unter uns rauschen die Wellen, schlagen gegen die Felsen. Die Gischt tanzt weiß und ohne Rhythmus auf dem tiefen Blau. Ich rieche die Algen, lasse meinen Blick über die kleinen, flachen Holme schweifen. Sie ragen nackt aus dem Wasser, schwarze Tintenflecke auf blauer Leinwand. Im Sommer fahren wir manchmal mit dem Boot dorthin. Dann tut sich eine neue Welt auf, in der Kahlheit entdecken wir kleine Wunder.
Ich gehe näher zum Abgrund, erhasche einen Blick auf die sich brechenden Wellen. L’appel du vide, denke ich, aber du hältst mich fest, ziehst mich dicht an dich, dann spüre ich deine Lippen. Sie sind warm und salzig. Meine Hand sucht deine Wange, gleitet von deinem Ohr deinen Kiefer entlang, zart und stark.
Ich fühle mich verbunden, weil ich immer suche und nie finde, und weil ich an dir dasselbe spüre.
Es knackt hinter uns, erschrocken fahren wir herum, lassen uns los. Ein weißes Kaninchen kommt aus dem Gebüsch, schnuppert umher, bleibt stehen, ich schaue es an, dann schaue ich dich an, aber du –
Du bist schon weg.
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