Er lud die verwitterten Holzkisten auf den Anhänger.

Wie viele Früchte hatten die Kisten schon beherbergt? Die Tomaten frisch und neu, ihr vorübergehendes Zuhause so verfallen, dass sie sich zu sorgen schienen: Hält es uns noch?

Er rückte seinen Hut zurecht, blinzelte in die erbarmungslose Sonne, die ihm Schweißperlen auf die Stirn trieb. Dann bestieg er den alten Traktor und fuhr seine Fracht den Maschinen entgegen, die das Aroma des roten Goldes zwischen runden Metallwänden konservieren würden.

Bevor er nach Feierabend sein kleines Haus betrat, entdeckte er, dass sich in seinem Vorgarten ein Zierlauch zu öffnen begann: die Haut bereits aufgeplatzt, die lila Blüten noch in kugeligen Knospen verborgen. Zufrieden nickte er der Pflanze zu, ich bin stolz auf dich, dachte er und betrat kopfschüttelnd sein Haus: Jetzt bist du schon stolz auf deine Pflanzen.

Er legte den Hut ab, ließ sich in seinen Sessel fallen und schaltete den Fernseher ein, der ihn sogleich in eine andere Welt aus Eis und Schnee katapultierte. Er liebte Eisschnelllauf, und das nicht nur wegen der faszinierenden Fremde, in der die Kälte das Geschäft bestimmte. Heute lief der polnische Eisschnellläufer Brodka, dessen Anzug rot war. Il pomodoro frenetico, die rasende Tomate, nannte er ihn.

Auf dem Weg in die Küche würfelte er einmal und tat einen Zug mit Rot: sechs. Heute musste ein guter Abend sein, denn eine Sechs bedeutete, dass er zweimal würfeln durfte. Er setzte, würfelte erneut: vier. Vier Schritte für Rot. Blau hatte, während er Tomaten geerntet hatte, lediglich drei Schritte vorwärts getan. Es lief gut.

Während er den Mozzarella schnitt, sah er Rauch aus dem Garten seiner Nachbarin steigen. Mit einem Klirren fiel ihm das Messer aus der Hand auf den Fliesenboden, er eilte zum anderen Fenster, von dem aus er den Garten besser überblicken konnte.

Seine Nachbarin saß schön wie eh und je im roten, kurzen Kleid auf einem Stuhl. Sie war barfuß, zwei Ketten mit großen Perlen hingen um ihren Hals. Während sie Seiten aus einem Buch ausriss und diese nach und nach dem Feuer übergab, das zu ihren Füßen in einer Metallschale loderte, beobachtete sie ihre Lilien, in denen sich ein ganzes Heer an Schmetterlingen tummelte. Sie schaute kein einziges Mal in das Feuer. Es war, als handelten Augen und Hände vollkommen unabhängig voneinander.

Er schüttelte den Kopf, verstand nicht, hob das Messer auf und schnitt weiter den Mozzarella in Scheiben, dann zwei Tomaten, drapierte alles zum Caprese und gab noch einen Schuss Balsamico sowie frischen Basilikum hinzu.

Er blickte zum Fernseher, während er die Vorspeise zum Tisch trug, Brodka war noch dabei, sich aufzuwärmen. Zurück in der Küche bereitete er Tomatensauce zu, gab Nudeln in kochendes Wasser. Seine Nachbarin löschte das Feuer, dann verschwand sie im Haus.

Das Telefon klingelte, gerade als Brodka losgelaufen war.

Er fluchte.

»Pronto.«

»Hast du den Kuchen bestellt?«

Er trat von einem Fuß auf den anderen. In seinem Kopf ratterte es. Kuchen, Kuchen, Kuchen …

»Du hast es vergessen.«

Das Rattern verwandelte sich in ein Feuer. Er spürte die Hitze in seinem Kopf, hatte noch immer nicht geantwortet, hörte nur die Enttäuschung, und – noch schlimmer – die Enttäuschung, die seine Schwester sowieso erwartet hatte. Die sie mit Recht erwartet hatte. Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, dann durch sein schütter werdendes Haar. Bald würden seine Finger nicht mehr viel zu greifen haben. Er war ein Schluri, ein Taugenichts, der es sogar vergaß, den Geburtstagskuchen zum 80. Geburtstag seiner Mutter zu bestellen.

»Ich lasse mir etwas einfallen. Promesso!«

»Mamma mia! Da gibt man dir einen Auftrag, einen leichten Auftrag, und du kriegst nicht mal das auf die Reihe. Ich hatte gleich ein schlechtes Gefühl, aber in meiner Gutgläubigkeit wollte ich dir wenigstens eine Chance geben.« Er sah sie vor sich, wie sie mit einer Hand wild gestikulierte, das Telefon ans Ohr gedrückt.

»Scu-«, setzte er an, da fiel ihm vor Schreck der Hörer aus der Hand. Seine Nachbarin stand direkt vor ihm, auf der anderen Seite des geschlossenen Wohnzimmerfensters, mit einer Gießkanne bewaffnet – ja, sie hielt sie tatsächlich wie eine Waffe, direkt auf ihn gerichtet – und goss seine Blumen auf dem äußeren Fensterbrett. Grimmig schaute sie ihn an, eine Augenbraue hochgezogen, während sich das Wasser auf die Blumen ergoss.

Der Hörer baumelte von der Kommode, darin schimpfte vermutlich noch immer seine Schwester. Verwirrt blickte er zwischen Hörer und Nachbarin hin und her. Schließlich nahm er den Hörer, wiederholte sein Versprechen und legte auf. Ein Blick auf den Fernseher – il Pomodoro Frenetico lag in Führung – dann öffnete er das Fenster vorsichtig.

»Ganz vertrocknet, poverine margherithe«, schimpfte sie, wiederholte flüsternd und kopfschüttelnd poverine margerithe. Arme Margeriten. Plötzlich unterbrach sie ihr eigenes Geflüster, sah auf und starrte ihm derart in die Augen, dass er das Gefühl hatte, sein Herz würde in ein Eisbad getunkt. »Die Königin hat morgen Geburtstag.«

»Grazie«, war alles, was er herausbrachte, als er es aus der Küche zischen hörte. Er ließ das Fenster los, das er immer noch in der Hand gehalten hatte, fluchte abermals und eilte in die Küche, in der das Nudelwasser übergekocht und die Sauce angebrannt war.

»Merda, merda, merda«, schimpfte er, während er das Wasser aufwischte, den angebrannten Topf samt Sauce in die Spüle stellte und voller Wasser laufen ließ. Als er zurück zum offen stehenden Fenster kam, vorbei am Fernseher – Brodka hatte die Führung knapp an Lunde verloren – war seine Nachbarin verschwunden. Stattdessen stand eine Engelsfigur auf dem inneren Fensterbrett. Das Engelchen saß auf einem Stein und hielt eine Hand in die Höhe. Darin saß ein kleiner Vogel. Er nahm die Figur in die Hand, drehte sie hin und her, beugte sich aus dem Fenster, drehte sich nach links, nach rechts. Seine Nachbarin war verschwunden.

Aus dem Fernseher drang Jubelgeschrei, Brodka hatte verloren, die Kamera zoomte seinen Gegner heran, den Mann in Blau mit den strahlend weißen Zähnen.

»Blue is the fastest color«, verkündete der Sieger außer Atem.

»Why?«, wollte der Reporter wissen.

»Red is aggressive, but blue is fast«, wiederholte Lunde nur.

Er schaltete den Fernseher aus, stellte den Engel auf den Esstisch und machte sich daran, sein Caprese zu verspeisen. Im Hintergrund sah er die brodierten Sofakissen, die seine Mutter angefertigt hatte. Seine Mutter, deren Geburtstagskuchen er für den morgigen Tag vergessen hatte. Wo sollte er so schnell noch eine Torte herzaubern? Nachdem er auch das Tiramisu verspeist hatte, griff er nach seinem Hut und trat aus dem Haus. Seine Nachbarin war nirgends auszumachen. Auch hinter den zugezogenen Vorhängen ihres Hauses konnte er keine Regung erkennen. Er stieg auf seine Vespa und fuhr ins Dorf, parkte vor der Bäckerei und betrat den Laden. Er kannte die Frau hinter der Auslage und grüßte freundlich.

»Sie tragen Blau«, sagte er dann.

Sie lachte und strich ihre Kleidung glatt. Ihre Wangen glühten. »Ich mag Blau.«

»Blau ist die schnellste Farbe«, sagte er. »Können Sie mir bis morgen eine Torte backen?«

Ihr Lächeln erlosch. »Bis morgen?«, wiederholte sie.

Er räusperte sich.

»Ich helfe Ihnen auch. Bin im Tomatengeschäft. Rot ist aggressiv, Blau ist schnell. Zusammen werden wir gewinnen.«

Jetzt lächelte sie wieder. »Sie sind mir ja einer. Für welchen Anlass denn?«

»Meine Mutter wird morgen achtzig.«

»Mamma mia!«

»No, Mamma mia«, versuchte er zu scherzen.

»Und dann kommen Sie erst jetzt

Er sagte nichts mehr, fühlte den Stich, hörte seine Schwester. Du verdammter Taugenichts. Er presste die Lippen zu einem Strich zusammen, während er die Macken im Parkett zählte.

»Danke trotzdem«, presste er hervor und wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie, Signore!«, rief sie ihm nach, als er schon an der Tür war. Er drehte sich um, sah ein resigniertes Lächeln auf ihren Lippen.

»Kommen Sie gegen sieben Uhr wieder.«

Endlich machst du mal was richtig, sagte er immer wieder zu sich selbst, während sie wogen, mixten, strichen, buken, verzierten, türmten. Du bringst es in Ordnung. Du kannst nicht nur Tomaten, du kannst auch Pavlova. Rasant und aggressiv erschufen sie die Torte im Kerzenschein der staubigen Backstube: eine dreistöckige Pavlova, dazwischen Heidelbeeren. Himbeeren und Erdbeeren waren aus.

Und dann rollten sie eine Riesenheidelbeere den Berg zum Haus seiner Mutter hinauf, sie, die Bäckerin im blauen Gewand, er, der Tomatenbauer im rotkarierten Hemd. Der Boden gefror unter ihren Füßen, plötzlich trugen sie Schlittschuhe, fuhren auf dem Eis bergauf, und es ging ganz leicht, die Riesenbeere schlitterte vor ihnen her. Aber als sie am Haus ankamen, löste es sich vor ihren Augen in Luft auf, und er schreckte hoch, griff sich das Stofftaschentuch auf dem Nachttisch und tupfte sich über die schweißnasse Stirn.

Nur ein Traum, nur ein Traum.

Er stand auf, ging zum Kühlschrank und versicherte sich, dass die Pavlova noch dort war, wo er sie gestern abgestellt hatte. Erleichtert atmete er auf, nahm eine Dusche und zog sein rotkariertes Hemd an. Der Engel auf dem Tisch war umgefallen. Er stellte ihn wieder auf, als er bemerkte, dass das Spiel beendet war. Blau hatte alle Spieler ins Ziel gebracht. Noch bevor er sich richtig darüber wundern konnte, sah er seine Nachbarin wieder am Fenster stehen. Er zuckte zusammen, griff sich an die Brust, was ist nur los, verdammt – er ging zum Fenster und öffnete.

»Die Königin ist tot«, sagte seine Nachbarin und eine Träne kullerte über ihre rote Wange.

»Was hast du gestern verbrannt?«, kam es aus seinem Mund. »Gestern im Garten.«

»Die Königin ist tot«, wiederholte sie.

Das Spiel war zu Ende.

Die alten Holzkisten zerbarsten, ihre Fracht ein roter Brei auf staubigem Grund.

Blau hatte gesiegt.

Rot war verloren.